Oft haben wir uns wirklich nicht getroffen.
Nach den Abiturprüfungen im März 1961 und einem höchst komfortablen Abi-Fest im Hause Presser-Velder verloren sich die Akteure in ihr jeweils eigenes Leben. Ein paar, die in Rhein-Main geblieben waren, trafen sich schon hin und wieder, im 25. Jubeljahr waren es sogar fast alle. Dann gab es mal eine kleine Tour in die Schweiz und vor ein paar Jahren ein Nostalgie-Wochenende an der Mosel, letzteres eingedenk einer Römer-lastigen Klassenfahrt der OII (= 11. Klasse) mit unserem überwiegend heiß geliebten Griechisch- und Philosophie-Lehrer Dr. Karl Brzoska (den wir in der Mittelstufe noch gehasst hatten, er wohl auch uns, Pubertät passt eben nicht jedem Lehrer). Für unsere eigentlich distanzierten Verhältnisse war es umso mehr erstaunlich, dass im Jahr 2011 von 21 Abiturienten 20 noch leben und 75 Prozent davon zu einer antiquierten Goldenes-Abitur-Feier nach Frankfurt reisen. So jedenfalls meine ambivalenten Gefühle. Die aber waren nach der ersten halben Stunde, in der manche noch fremdeln mochten, wie weggeblasen.
Für die Erinnerung war vieles da: Das alte Gebäude, die antikisierende Halle im Altbau (das ist einmal kein Flur nach Baumindestanforderung!), das Direktor-Wohnhaus und gegenüber der Zoo. Nur von den damaligen Giraffen war nichts zu sehen, leider. Dafür viel Neues. Nicht so sehr das Offensichtliche: Gebäude, Einrichtungen, Doppeldeckersporthalle. Wirklich beeindruckt hat mich Nostalgieskeptiker, wie souverän sich eine Schule präsentiert, die doch eigentlich in einer Minderheiten-Defensive stecken müsste.
Der jetzige Direktor und frühere Schüler des Gagern, Thomas Mausbach, konnte uns sehr differenziert und abwägend erklären, wie sich das alte humanistische Gymnasium mit Schmalspurversionen von Naturwissenschaft und Neuen Sprachen zu einer modernen Schule entwickelt hat und dabei allen auch noch Latein und Griechisch beibringt.
Und die, das hat mich besonders gefreut, weiterhin viel Raum und Zeit bereitstellt für Musik und Theater. Also, vermute ich, ist das heutige Kollegium doch so gestrickt, dass alte Muster und Fäden erkennbar bleiben. Aber weit besser verarbeitet als zu unserer Zeit.
Mir war sehr wichtig zu hören, dass das heutige Gagern-Gymnasium seinen sozialen Ort in Frankfurt reflektiert: im industriellen Osten der Stadt, nicht im bürgerlichen Westend, in dem das Lessing-Gymnasium zu Hause ist. Und in hautnaher Nachbarschaft zur Realschule der jüdischen Gemeinde.
Davon hatten wir seinerzeit (1952-1961), soweit ich mich erinnere, nichts gehört.
Wie zu unseren alten Zeiten kommen aber auch heute noch viele Schüler/innen aus dem Umland. Damals hießen sie Fahrschüler und hatten den unschätzbaren Vorteil, dass sie immer eine Ausrede hatten, weil der Bus wegen Glatteis oder so ähnlich verspätet war.
Denn es gab zu unserer Zeit eine scharfe Eingangskontrolle: An der Tür stand immer Direktor Frosch oder Studienrat XY - ich selbst bin meist beim letzten Klingeln gerade noch durchgekommen. Das mache ich heute noch so.
Was ich damals nicht gemacht habe, habe ich jetzt aufrichtig bereut: Erst jetzt, nach 50 Jahren, sehe ich mir die Fresken in der Aula bewusst an und staune, in welcher Umgebung ich groß geworden bin. Sehr merkwürdig. Die Aula war in meiner Erinnerung der wichtigste Raum, aber gewürdigt hatte ich sie nur als Theater- und Konzertsaal. Ich spielte eigentlich mehr schlecht als recht – aber Musik und Theater sind bis heute existentiell wichtig. Die Schule prägt eben auch im Guten. Zu Ehren meiner Klassenkameraden (Kameradinnen gab es ja nicht) will ich mal annehmen, dass ich da die miese künstlerische Ausnahme bin, der Klassizismus gehört bis heute nicht zu meinen Lieblingen. Aber wer weiß, es gibt unbewusste Prägungen. Dazu zähle ich auch, dass wir einige Jahre aus Platzmangel in der Lehrerbibliothek unterrichtet wurden. Seither bin ich sicher, dass die bloße Gegenwart und der Geruch von Büchern rein physisch Lust auf mehr machen, also bilden.
Aber zurück zu unserem Goldenen: es gab nicht nur Reflektionen und Sekt, sondern auch eine launige und informative Führung durch die Schule, bei der Ex-Lehrer und Jetzt-Ehemaliger Timm Kaiser die Schlüsselgewalt hatte, die ich mir immer gewünscht hatte. Es gab für uns anrührende Begegnungen mit unseren Lehrern, die nicht mehr leben. Die jetzige Lehrerin Roswitha Winter-Stein hatte aus dem Archiv eine auf uns zugespitzte Foto-Dokumentation zusammengestellt. Eigenartig, wie Bilder und Räume friedliche, mitunter melancholische Erinnerungen wecken. Eine Frage des Alters?
Ja, was ist aus uns geworden, nach 50 Jahren? Viele sind schlauer, reicher und dicker geworden. Nicht alle. Alle sind wir älter, plus minus siebzig. Es scheint, dennoch, dass sich die Personen nur geringfügig verändert haben, äußerlich schon eher, aber nicht im Gehabe. Immerhin, die Siebzig lässt es zu, festgefügte, also fünfzigjährige Ansichten über den oder den zu revidieren und einige doch wie neu wahrzunehmen. Das ist kein schlechter Lohn nach 50 Jahren.
Und das Beste am Jubeltag: In den Menschen, die uns, die ergrauten und kurzzeitig vergoldeten Abiturienten so aufmerksam und so reflektierend empfangen haben, konnte ich, konnten wir erstaunt unser altbekanntes Heinrich-von-Gagern-Gymnasium antreffen - sehr neu, sehr viel besser und sehr sympathisch. Nix wie hin!
Ulrich Jaekel, Freiburg im Breisgau (O I a, Abitur 1961)