„Unsere Eltern wollten, dass wir es besser haben als sie und glücklich sind.“
Auch in diesem Jahr besuchten Zeitzeugen unsere Schule. Die neun Gäste kamen aus Israel und gehörten der zweiten Generation der Zeitzeugen an. Sie nahmen selbst bzw. als Begleitung an dem Projekt „Jüdisches Leben in Frankfurt“ teil. Dazu haben sie die Einladung der Stadt Frankfurt angenommen und in diesem Zusammenhang auch den Ort aufgesucht, an dem die ehemalige Samson–Raphael-Hirsch-Schule stand, wo sich heute der Neubau unserer Schule befindet.
An den Zeitzeugengesprächen nahmen Schülerinnen und Schüler der 9. Klasse sowie der Q2 teil. In zwei verschiedenen Gruppen, die von Frau Ochs und Frau Hofmann moderiert wurden, sprachen die Gäste über Ihre Geschichte und die Erlebnisse ihrer Eltern und Großeltern.
Im Vorfeld der Gespräche nahmen die Gäste an einem kleinen Rundgang durch die Schule teil. Sie sahen die Gedenktafeln vor der Schule und im 1. Stock, die Aula mit der Orgel und dem Wandgemälde sowie das Modell der Schule im Erdgeschoss.
Die Zeitzeugin im Geschichtskurs Q 2 (Frau Ochs) und in der Geschichtsklasse 9 d (Herr Palchik) am 8.6.2015 in der 3. und 4. Stunde war Frau Tamar Zohar-Fenster. Außer von ihrem Ehemann wurde sie begleitet von Frau Edith Conrad, einer Holocaust-Überlebenden, die heute in Dietzenbach lebt, und Frau Ellen Sasha Holz, einer Vertreterin der „Stolperstein-Initiative“. Frau Tamar Zohar-Fenster ist 1945 in Palästina im Kibbuz geboren und dort aufgewachsen. Heute lebt sie in der Nähe von Tel Aviv. Das Wissen über ihre Vorfahren hat sie sich selbst erarbeitet.
Vor diesem Besuch war sie schon zweimal in Deutschland, um nach der Geschichte ihrer Familie in Frankfurt zu recherchieren. Anschließend sorgte sie dafür, dass vor dem Wohnhaus ihres Großvaters durch die „Initiative Stolpersteine“ zwei Stolpersteine in der Rückertstraße 48 in Frankfurt in das Pflaster eingelassen wurden: für den Großvater Kurt Politzer (geb. 14.7.1881 in Rogazin/Polen) und die Tante Adelheid, seine einzige Tochter. Zuletzt lebten sie in einem Ghetto-Haus in der Obermainanlage 28. Beide wurden am 22.11.1941 mit dem Zug nach Riga deportiert. Dieser Transport wurde nach Kovna Lithuania umgeleitet, wo alle Gefangenen am 25.11.1941 umgebracht wurden. Das Todesdatum des Großvaters wurde auf den 8.5.1945 festgelegt, zu Adelheid Politzers Tod liegen keine Dokumente vor. Die Ehefrau von Kurt Politzer, Emma-Elka Adler (geb. 8.4.1882 in Rüsselsheim/Deutschland), war bereits 1930 in Frankfurt gestorben.
Kurt Politzer hatte außer Adelheid noch drei Söhne: Manfred Politzer (geb. 1915), Abraham (Armin) Pulitzer (geb. 23.10.1919 in Frankfurt, gest. 1994 in Israel) und Walter Simon Pulitzer (geb. 29.10.1920 in Frankfurt, gest. 1969 in USA). Die Söhne Armin, der Vater Tamar Zohar-Fensters, und Manfred emigrierten 1934 nach Palästina, der jüngste Bruder, Walter, floh 1938 in die USA.
Der eindrucksvolle Vortrag Frau Zohar-Fensters über ihre Familiengeschichte wurde mit Fotos zu den einzelnen Stationen im Leben des Großvaters veranschaulicht: Familienfotos, Foto seiner Schulklasse, Foto im jüdischen Waisenhaus im Röderbergweg (Jüdisches Museum Frankfurt), Foto von den Stolpersteinen vor der Rückertstraße 48 (Herr Palchik).
Das Ergebnis des sich anschließenden Gesprächs war, dass das Reden mit Zeitzeugen der ersten und auch zweiten Generation über die finstere Zeit immer wieder nötig ist, um Menschen zu Toleranz und Respekt gegenüber anderen Menschen zu erziehen und um darüber aufzuklären, welche mörderischen Konsequenzen die Missachtung der Menschenrechte haben kann, wie dies in extremem Maße im 3. Reich der Fall war.
Frau Zohar-Fenster bedankte sich in einer Email bei mir für den Besuch und bezeichnete die Begegnung mit den Schülerinnen und Schülern als die bedeutendste Erfahrung des Besuchsprogramms in Frankfurt am Main.
Die Schülerinnen und Schüler der Q2 (Frau Hofmann) haben das Glück, die Erlebnisse von vier verschiedenen Nachkommen ehemaliger Frankfurter und ihrer Angehörigen zu erfahren.
So verschieden die Berichte auch sind, so versöhnlich sind sie doch gleichzeitig: Die Gäste berichten von Unterstützung in lebensbedrohlichen Situationen und dem Einsatz couragierter Menschen über einen großen Zeitraum hinweg.
Die Gespräche fanden zunächst in englischer Sprache statt, im Verlauf wird jedoch immer mehr deutlich, dass die Gäste über sehr gute Deutschkenntnisse verfügen, die sie immer mehr einfließen lassen. Sie berichten nicht nur über die eigene Geschichte, sondern die Schülerinnen und Schüler erfahren auch über die verschiedenen Strömungen innerhalb des jüdischen Glaubens und die Auseinandersetzung zwischen Juden und sogenannten „Ostjuden“.
Über ihre Vergangenheit haben die Eltern der Gäste nur wenig gesprochen, sie wollten, dass ihre Kinder ein besseres Leben führen und sich nicht mit den Schrecken der Vergangenheit auseinandersetzen.
Den Anfang macht Uriel Moshe Meizahav, der 1944 als Uriel Goldwasser geboren wurde. Seine Mutter Ilse Bender besuchte in Frankfurt das Lyzeum der Israelitischen Religionsgemeinschaft. Sie arbeitete nach Beendigung der Schulzeit als Sekretärin für die Deutsch-Französische Gesellschaft. Nach ihrer Heirat mit Ludwig Goldwasser im Jahre 1932 lebten sie zusammen glücklich in Leipzig.
Nach der Reichskristallnacht bekam die Familie von britischer Seite die Erlaubnis zur Ausreise. Begünstigt wurde dies durch Uriels Großonkel Morris Emanuel, der zu der zeit bereits in London lebte. Im Jahre 1939 wanderten sie zusammen mit ihren beiden Eltern, den Großeltern Uriels, nach Palästina aus. Andere Familienangehörige gingen nach England, wo sie den Krieg erlebten, so dass sich die Familienmitglieder erst 1946 wiedersahen. Ein anderer Großonkel hingegen überlebte die Zeit der Nationalsozialismus nicht und wurden zusammen mit seiner Frau in Theresienstadt ermordet.
Seinen deutschen Hintergrund merke man auch daran, dass er seinen Enkeln noch deutsche Kinderlieder vorsinge.
Yoram Hauser berichtet von der sehr frühen Auswanderung seiner Familie nach Israel. Sein Vater war streng gläubig und sah die Zukunft für sich uns seine Familie in Israel. Seine Familie hatte die Zeichen der Zeit richtig eingeschätzt und es so geschafft, rechtzeitig auszuwandern. Er sei in Israel heimisch, auch wenn sein Vater ihm geraten habe, das Land zu verlassen und sein Glück an einem anderen Ort zu suchen. Der Anfang muss für die Eltern schwer gewesen sein, da fehlende Sprachkenntnisse den Umgang mit den dort lebenden Menschen erschwert haben. Auf der Straße wurden sie negativ angesprochen, wenn sie deutsch sprachen.
Yoram berichtet auch von einem Erlebnis seines Vaters, das einen für alle unerwarteten Ausgang nahm: Für die Ausreise hatte sein Vater Geld benötigt, das ihm die Bank jedoch aufgrund der Rassengesetze nicht mehr hätte auszahlen dürfen. Der Bankmitarbeiter akzeptiere jedoch die für ihn offensichtlich unechten Edelsteine als Sicherheit und zahlte das dringend benötigte Geld aus. Der Vater hatte bei einem späteren Deutschlandbesuch versucht, den Mann aufzusuchen und zu danken, ihn aber leider nicht mehr finden können.
Die Geschwister Orly Silvas und Ehud Zweigel, die mit Tochter und Ehemann anreisten, hatten sich zum Glück für die Schülerinnen und Schüler am Tag des Besuchs am HvGG ebenfalls spontan dazu entschieden, über ihre bewegende Familiengeschichte zu berichten. Ihre Mutter Regina Zweigel, geb. Buchspan hat die israelische Volksschule besucht. Ihre Familie wanderte ebenfalls nach Israel aus, wo die beiden geboren sind und auch heute noch mit ihrer Familie leben.
Die Geschichte ihrer Mutter ist vergleichbar mit den Erlebnissen der Eltern von Uriels Frau Nitza. Diese beschäftigt sich seit einiger Zeit intensiv mit der eigenen Familiengeschichte. Ihre Familie stammt ursprünglich aus Polen.
Beide Eltern überlebten dank des couragierten Eingreifens hilfsbereiter Menschen.
Einigen Bauern gelang es, die Mütter der beiden, z.T. über 22 Monate hinweg, bei sich auf dem Hof zu verstecken und dies auch vor den eigenen Kindern geheim zu halten. Später haben sie sich wieder getroffen und auch in Polen besucht. Für seine Verdienste wurde er vom Yad Vashem unter die „Gerechten“ aufgenommen.
Dem Vater gelang die Flucht aus einem Transport ins KZ. Er sprang bei eisigen Temperaturen zusammen mit einigen anderen aus dem Zug. Viele überlebten die Flucht im unwirtlichen Gelände nicht. Die dabei erfahrenen Erlebnisse behielt er für sich. Auch er verdankt sein Leben der Unterstützung der einheimischen Bevölkerung.
Im Anschluss an jeden Bericht werden die Schülerinnen und Schüler immer wieder ermuntert, Fragen zu stellen. Diskutiert wird unter anderem die Frage, ob man sich als Jude in Deutschland sicher fühlen könne. Den Gästen war vorab geraten worden, ihre Kippa unter einem weiteren Hut zu verstecken. Auch wenn es heutzutage viel Akzeptanz und Toleranz gibt, verunsichern die Ereignisse wie jüngst in Paris.
Viele Rätsel über den Verbleib ihrer Angehörigen konnten erst im Laufe des Frankfurtbesuchs gelüftet werden. Dies bedeutet eine große Erleichterung für die Gäste, die mit ihren Angehörigen nur wenig über die Zeit des Holocaust gesprochen haben.
Begleitet wurden die Gäste von Frau Faltinat, die das Projekt seit Jahren kompetent betreut und Frau Conrad, die ihrerseits viel über ihre Vergangenheit als Halbjüdin in Frankfurt der NS-Zeit berichten könnte. Wir hoffen, dass wir Frau Conrad zeitnah für ein Gespräch mit Schülerinnen und Schülern wieder an der Schule begrüßen dürfen.
Oberstufenleiter Dr. Hermann Henne begrüßte im Anschluss an die für alle Seiten interessanten Gespräche die Gäste. Bei einem koscheren Imbiss fanden noch weitere anregende Diskussionen statt, bevor die Besucher aufbrachen, um weitere geschichtsträchtige Orte innerhalb und um Frankfurt zu besuchen.