Jüdisches Leben in Frankfurt früher und heute – unser Gespräch mit einem Zeitzeugen
Auch in diesem Mai besuchten uns aus aller Welt ehemalige hessische Bürger, die ihres jüdischen Glaubens wegen während des Nationalsozialismus ihre Heimat verlassen mussten. Eingeladen von der Initiative ‚Jüdisches Leben Frankfurt am Main‘ machten sie sich auf, ihre Wurzeln in Frankfurt und Umgebung zu suchen, dem Puzzle ihrer Familiengeschichte ein neues Stück hinzuzufügen, aber auch, um mit uns heutigen Frankfurter Schülern ihre Geschichte, ihre Erfahrungen und ihre Gedanken zu teilen.
Am Montag, dem 23. Mai 2016, hatte der Geschichtskurs von Frau Obermöller also die Möglichkeit, mit Herrn Stuart Hanau zu sprechen. Auch Schülerinnen und Schüler der Klasse 7 beteiligten sich an der Diskussion.
Herr Hanau wuchs in den Vereinigten Staaten auf, da seine Mutter, Reni Hanau, geboren 1933, nach der Reichspogromnacht 1938 gezwungen war, aufgrund ihrer Angehörigkeit zum Judentum mit ihren Eltern zu fliehen. Stuart Hanau berichtete uns von seinem Leben in den USA und vor allem von dem dauerhaften Zustand seines „Sich-anders-Fühlens“.
Er sprach sehr offen und zeigte reges Interesse an uns Schülern, indem er immer wieder Fragen an den Kurs stellte. Das erhöhte nicht nur unsere Aufmerksamkeit, sondern vermied auch lange Monologe seinerseits. Zu Beginn warf der heute etwa Sechzigjährige einige hypothetische Fragen in den Raum, auf die jedoch keiner eine Antwort wusste: Was wäre gewesen, wenn das Grauen des Nationalsozialismus nicht geschehen wäre? Wenn die Nazis den 2. Weltkrieg tatsächlich gewonnen hätten? Hätte es nicht ebenso sein können, dass seine Mutter im Krieg umgekommen wäre, und er demzufolge nicht hätte leben dürfen? - Diese und ähnliche Fragen hätten ihn früher sehr beschäftigt. Mittlerweile sei ihm aber bewusst geworden, dass es keinen Sinn ergebe, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, da nun einmal geschehen sei, was geschehen ist, und man die Vergangenheit nicht einfach rückgängig machen könne.
Seine Frage, wann man denn wissen könne, dass es Zeit sei zu gehen und sein Heimatland zu verlassen, löste eine Diskussion unter den Schülern aus. Einerseits solle man zu seinem eigenen Schutz bereits zu dem Zeitpunkt fliehen, in dem man sich stark diskriminiert oder gar bedroht fühle. Dies sei aber nicht immer einfach, da man schließlich alles zurücklassen und ein neues Leben in einem fremden Land beginnen müsse. Andererseits gelte es auch manchmal als tapfer und heldenhaft, wenn man trotz Diskriminierung, auch auf hohes Risiko hin - aus Protest - bleibe, um sich durchzuschlagen.
Hanau berichtete, dass auch heute vor allem Schweigen eine große Hilfe sei, sich Diskriminierung vom Leib zu halten („To know when to be quiet is more important than to know when you have to leave“). So habe er in den USA kaum jemandem erzählt, dass er Jude ist. Trotzdem habe es auch in der neuen Heimat einige Situationen gegeben, in denen seine Familie mit Vorurteilen und zynischen Bemerkungen konfrontiert worden sei. Beispielsweise seien ihnen einmal Geldmünzen vor die Füße geworfen worden –„die Juden sind ja immer so gierig auf Geld und heben es bestimmt auf“. Manchmal habe es auch Situationen gegeben, in denen er sich fragte, woher sein Gegenüber von seiner jüdischen Abstammung wusste, z. B. wurde ihm die Frage gestellt, was er denn jemandem zur Bat Mitzwa schenken würde, obwohl er zuvor nie erwähnt hatte, dass er Jude ist.
Auf die Frage, ob er ein Problem damit hätte, wenn seine vier Kinder ihre Religion nicht ausleben würden, antwortete Hanau nicht direkt. Er selbst empfinde sich in den USA heute noch vor allem als „anders“, auch als Jude, obwohl er seinen Glauben nicht intensiv praktiziere. So sei er zum Beispiel mit einer Christin verheiratet. Doch sei es eigentlich unmöglich, nach dem Holocaust die eigene Religion zu ignorieren. So leben seine Kinder in den USA ihren jüdischen Glauben offen – jeder auf seine Weise.
Was mir persönlich sehr gefallen hat, ist die Tatsache, dass der Stuart Hanau auch einen Bezug zur Gegenwart hergestellt hat; auf die Frage, warum ausgerechnet in der Zeit des Nationalsozialismus so viel Hass gegen die Juden geschürt worden sei, gab er eine simple und beängstigende Antwort: Es hätte jedem passieren können, zu jeder Zeit. Die menschliche Natur suche sich in Zeiten der Unzufriedenheit prinzipiell einen „Sündenbock“, welchem sie die Schuld für ihr Unglück in die Schuhe schieben kann. Damals hätten jenen Sündenbock per Zufall die Juden dargestellt, die einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen seien.
Extremisten, die aktuell wieder Zulauf erfahren, wie zum Beispiel die AfD in Deutschland oder Donald Trump in Amerika, erfüllten ihn mit großer Furcht.
Anna Raab, Q2